Die Gabe des Sehens

Einleitung: Buchela bekam Besuch von einer "Kollegin" -

im folgenden das Dialog zwischen den beiden:

...und daß ihr erster Mann gestorben war und sie nun mit einem Mann zusammelebte, der sie während eines Streites heftig geschlagen hatte.

"Und daraufhin seid Ihr zu jemanden gegangen und habt gesagt, Euer Mann sei ein Dieb."

"Aber er war kein Dieb, er hatte nicht gestohlen. Dennoch ist er deswegen ins Gefängnis gekommen. Weil Ihr Eure Rache für die Schläge wolltet."

Während ich sprach und in den Augen dieser Frau wie in einem Buch las, begann sie immer stärker zu zittern. All die Stattlichkeit, ja Hochmütigkeit, mit der sie zu mir ins Zimmer gekommen ist, fiel von ihr ab. Sie zog das schwarze Tuch über ihren Kopf, beugte das Haupt; ich sah Tränen auf die Tischplatte tropfen.

"Du hast es" flüsterte sie. Mit diesem Satz stand sie auf, warf das Tuch zurück, kam auf mich zu, streichelte mir die Schultern und schrie: "Du hast es!" Sie weinte dabei stärker, das Wasser lief ihr haltlos über das Gesicht.

"Ich habe es auch gehabt - und verloren."

Mich dauerte diese Frau. Denn ich hatte durch mein zweites Gesicht im Laufe weniger Minuten gewußt, wie es um sie bestellt war. Siebzehn Jahre lang hatte sie als Hellseherin in Madrid gewirkt. Bei ihr suchten die spanischen Politiker und Bischöfe, die Erben des Königreiches und viele, viele tausend Menschen Rat. Nicht nur die Prominenten, wie König Juan Carlos und Königin Sophia, kamen abends und heimlich zu ihr, um sich ihren Weg sagen und ihre Träume deuten zu lassen. Auch unsere einfachen Mitmenschen, denen die Sorgen über den Kopf wuchsen und die wissen wollten, wie der nächste Tag, der kommende Monat, das folgende Jahr, wie ihre Zukunft aussehen würde.

"Ich habe es Ihnen gesagt. Alles, aber auch alles stimmte. Tausende waren mir dankbar, daß ich sie vor Unheil bewahrte und ihnen die Möglichkeit gab, das kommende Gute zu nützen."

Die Zigeunerin schluchzte.

"Ich war die Wahrheit, ich habe den Menschen, ob König oder Bettler, die Wahrheit gesagt. Und dann kam meine Tat. Von dem Moment an, als mein Mann ins Gefängnis kam, wußte ich nichts mehr. Alles was ich über die Vergangenheit sagte, war falsch. Alles was ich voraussagte, traf nicht ein. Alle Ratschläge waren unnütz. Es stimmte nichts mehr."

Sie blickte mir gerade in die Augen.

"Ich habe durch eine einzige Handlung, durch eine böse

Tat es verloren."

Sie fiel vor mir auf die Knie, umfaßte meine Beine.

"Helfen Sie mir das ich wieder sehe."

Ich hob sie auf, führte sie sacht zu ihrem Sessel zurück.

"Geht nach Hause und grämt euch nicht", sagte ich. "Ihr bereut, und vielleicht gibt euch das Schicksal Eure Gabe wieder." Ich sagte Schicksal und wollte den Namen Gottes nicht aussprechen.

Das Schicksal - oder Gott? - gab ihr die Seherkraft nicht zurück. Durch eine Handlung, die von persönlichen Gefühlen bestimmt war, die der bösen Befriedigung einer Rache diente, vergab diese Frau die wunderbare Gabe des Sehens.

Ich habe sie noch, weil ich noch niemals - wissentlich - einem Lebewesen weht tat. Ich bin ein Mensch, der zumindest versucht, gut zu sein. Ich kann mich nun nicht hinstellen und sagen: "Ich bin der gute Mensch, deshalb kann ich sehen. Ich bemühe mich lediglich, gut zu sein, und bete jeden Tag zu Gott, er möge mich davor behüten, einem Menschen schlechtes anzutun oder hartherzig gegenüber anderen zu sein. Ich weiß, es ist demütiger zu sagen: Ich glaube, daß Gott um mein Bestreben, um mein Bemühen weiß. Deshalb wurde ich mit der Kraft des Sehens belohnt. Belohnt? Das ist ein Wort, das nur manchmal zutrifft. Oft müßte es heißen: Mit der Sehergabe geschlagen. Denn das Wissen um die Vergangenheit und die Zukunft der Menschen macht mich nicht immer zufrieden oder gar glücklich. Es ist meist zuviel, was einem einzelnen Menschen, und dazu noch einer Frau, zugemutet wird. Es ist eine Bürde. Die Voraussetzung, um den Menschen sein Wissen überhaupt mitteilen zu können, ist eine alle Lebewesen berührende Ausstrahlung.